Wie versprochen, komme ich heute auf die Texte und Marotten von uns Läufer noch einmal zurück: In der Anfangszeit der Laufbewegung in den siebziger Jahren ging es beim Training erst einmal um die Kilometer.
Unser Glaube war in den frühen Jahren, dass jeder gelaufene Kilometer uns dem Erfolg näher brachte. Wir spürten auch, dass diese Idee richtig war. Wir wussten ebenso, dass man auch ab und zu einmal Tempoläufe trainieren musste. Aber kaum jemand hatte eine Ahnung, wie weit wir es treiben konnten mit der Anzahl der Kilometer pro Woche.
Und da wurde dann experimentiert. Jeder der leistungssportlich orientiert war, versuchte seinen Ideen nach hohe Umfänge zu laufen. Das heißt, für den einen waren 50 km/Woche viel zu viel und anderen 150 km zu wenig.
Natürlich waren dort auch Läufer und Läuferinnen dabei, die hohe Umfänge verabscheuten und sich angewidert von denen abwandten, die als Kilometerklopper bezeichnet wurden. "Die können so oder so nicht richtig laufen", das war deren Meinung.
Wenn nun einer der Umfangsfetischisten jemand von den "Schnellen" besiegte, wurde diese Niederlage mit den Worten geschönt: "Wenn ich so viele Kilometer laufen würde wie du, dann hättest du keine Chance gegen mich!" Dieser Satz entwickelte sich zu einem Mantra und die Läufergemeinde war tief gespalten.
Kommen wir aber zurück auf die "Verrückten" der damaligen Szene, deren Nachfahren heute in den Seelen deiner Laufkumpel weiter leben. Der Kilometerfetischismus lebt immer noch, er wird sogar seit der Zeit der elektronischen Streckenvermessung größer. Ich erlebe immer wieder wie groß der Glauben an die GPS-Geräte ist.
Meine Nr. 1 ist in dieser Hinsicht ein Kunde der mailt: "Peter, wie lang ist eigentlich eine Stadionrunde?" Antwort: "Willst du mich auf den Arm nehmen, 400 Meter!" Der Kunde: "Nee, ich habe es mit meinem GPS nachgemessen, es sind mehr als 402 Meter!"
Würg! Es wäre möglich jetzt hier genaustens zu erklären, warum eine Stadionrunde wirklich exakt 400 Meter lang ist. Aber dafür sind mir diese Zeilen zu wertvoll, nur soviel: Ein GPS-Gerät misst nur ganz genau auf einer geraden Linie.
Die Nummer zwei unter den km-Fetischisten ist H.G.W. Er weilte zusammen mit vielen anderen Läufern in einem Trainingslager in Südtirol Anfang der Achtzigerjahre. Der Schreiber dieses Textes hatte als Tagesaufgabe ein Training über 20 Kilometer im extensiven Dauerlaufbereich aufgegeben und lief selbst mit. Der Einrundenkurs war vorher mit dem Fahrrad vermessen worden.
Als wir am Ende dieses Trainingsabschnitts wieder an unserem Hotel ankamen, schaute H.G. auf sein GPS Gerät, welches nur 19,850 m anzeigte. Wir alle waren froh, dass die Einheit zu Ende war, aber H. G. wollte unbedingt die 20 Kilometer voll haben und rannte noch 15-mal um den vor dem Hotel stehenden Dorfbrunnen. Wir haben uns fast krankgelacht, was dem Protagonisten aber gar nicht gefiel.
In einem anderen Trainingslager trat auch ein ganz besonderer Läufer auf, denn seine heimatlichen Laufkameraden den Bomber nannten. Komischer Name für einen Läufer, aber wir wussten bald woher dieser Spitzname kam. Er sah grundsätzlich seine Aufgabe bei ruhigen Einheiten darin, nur mit Läufern zu trainieren, die weitaus stärker waren als er. D.h., wenn für alle ein extensiver Dauerlauf angesetzt wurde, rannte er, der um die 40 Minuten auf zehn Kilometer laufen konnte, mit denen mit, die 35 Minuten laufen konnten.
So kam er bei diesem ruhigen Dauerlauf völlig ausgepumpt im Ziel an und konnte in der Regel auch das Tempo am Ende nicht mehr halten. Am Nachfolgetag war dann meist für alle ein Tempolauf angesagt und diesen konnte er natürlich nur in seiner eigenen Gruppierung bestreiten und trat sich bei diesem Training erwartungsgemäß sinnbildlich auf die Zunge. Das ging ein paar Tage so, dann brach er körperlich praktisch zusammen und konnte einen Tag keinen Schritt mehr laufen. Aber nachfolgend machte er genau das Gleiche wieder.
Natürlich führte ich dann mit diesem Mann ein Gespräch, in dem ich ihn daraufhin wies, dass sein Trainingsverhalten nicht zum Erfolg führen kann und er schon jetzt Übertrainings-Symptome zeigte. Auf die Frage hin, warum er denn in jeder Trainingseinheit an seine Grenzen geht antwortete er: "Wenn ich mich nicht richtig anstrenge im Training, habe ich einfach ein schlechtes Gewissen."
Ich erklärte ihm die trainingsmethodischen Hintergründe und wies darauf hin, dass sein Verhalten neurotisch sei und bat ihn sich zu schonen. Er versprach hoch und heilig meinen Ratschlägen zu folgen und das machte er dann auch, aber wirklich nur einen Tag lang. Dann ging Bomber wieder zum Angriff über.
Wenn du glaubst, dass diese Art von Trainingsverrückten selten ist, dann irrst du dich. Ich erlebe das auch noch heute bei Menschen, die sich individuelle Trainingspläne bestellen und danach minutiös trainieren. Die sind zutiefst unbefriedigt, wenn sie zum Beispiel auf tief verschneiten Straßen das vorgeschriebene Tempo nicht erreichen können.
Sie können seelisch nicht abhaken, dass sie trotz geringerem Tempo ihr Trainingsziel erreicht haben. Die nächste Einheit wird ein umso härter trainiert, damit die Schande vom Vortag getilgt ist.
Nun will ich aber nicht nur über andere herziehen, sondern auch einmal über mich selbst aus dem Nähkästchen plaudern. 1983 weilte ich zu einem Badeurlaub zusammen mit meiner Frau in Thailand. Natürlich trainierte ich auch dort, das ging aber nur nach Einbruch der Dunkelheit, denn nur zu diesem Zeitpunkt war die feuchte Hitze einigermaßen zu ertragen.
Dennoch lief der Schweiß in Strömen. Wenn man etwas flotter lief, dann tröpfelte der Schweiß nicht mehr, sondern lief in einem dünnen Strahl von dem Zipfel der Hosenbeine auf die Beine und von dort in die Schuhe.
Bei einem Training auf einer beleuchteten Promenade lief von hinten ein junger Mann zu mir auf. Diese Promenade war dreigeteilt, links ein breiter Fußweg daneben Rabatten mit Büschen, Bäumen, Blumen und rechts am Fahrbahnrand noch einmal ein schmaler Fußweg auf dem wir liefen.
Der Läufer war ziemlich fit und konnte locker mit mir laufen. Erst unterhielten wir uns auf Englisch, aber als uns plötzlich jemand im Weg stand kommentierte er das mit dem Wort Sch… auf Deutsch. Wie sich herausstellte war er ein Schweizer, der ebenso wie wir Urlaub machte.
Und was wir dann trieben, war kein Urlaub. Der Typ fing an zu ziehen, er erhöhte das Tempo ständig. Eigentlich sollte es für mich ein langsamer Dauerlauf werden, nun aber hatte mein neugeborener Partner meinen Kampfgeist geweckt. Jetzt drehte ich unser Tempo nach oben und schon lagen zehn Meter zwischen uns. Der Junge war am Rande seiner Leistungsfähigkeit, ich ließ ihn wieder herankommen. Prompt erhöhte er sofort das Tempo wieder, da hatte er bei mir aber versch…!
Nun gab ich richtig Gas und lief im Abstand von 20 Meter vor ihm her. Damit ich ihn kontrollieren konnte, musste ich mich immer wieder umschauen. Und dabei gab es plötzlich aus heiterem Himmel einen mächtigen Rumms und als ich wieder zu mir kam, lag ich am Boden, über mich beugte sich der Schweizer und fragte, ob mir denn etwas weh tun würde. Ja, es tat etwas weh, ich hatte eine große Platzwunde an der Stirn aus der das Blut nur so lief.
Was war passiert? Durch das ständige Umschauen hatte ich einen 15 Zentimeter dicken Ast eines Baumes übersehen, der schräg in den Fußweg reinragte. Und dieses böse Stück Holz hatte mich einfach umgehauen. Die kleinen Thais konnten unter diesem Ast unbeschadet durchlaufen, aber für einen 1,95 m großen Europäer war er einfach zu niedrig. Mein Mitläufer kümmerte sich rührend um mich, aber ich kam schnell wieder auf die Beine, hatte keine Schmerzen und so liefen wir beide zurück in Richtung der Hotels.
Als meine Frau mir die Hoteltür öffnete, fiel sie fast in Ohnmacht, denn ich war von oben bis unten blutüberströmt. Diese Ansicht wurde noch verstärkt, weil meine Bekleidung natürlich vorher schon durchgeschwitzt war und das Blut sich dann schnell verteilen konnte.
Nun kommt die Verrücktheit! Meine Trainingseinheit war ja noch nicht zu Ende. Also Klamotten ausgezogen, geduscht, Pflaster auf die Stirn und raus auf die Straße und die noch fehlenden Kilometer nachgeholt. Seit diesem Tag wusste meine Ehehälfte, dass ich nicht nur ein klein bisschen verrückt war.
Natürlich war das ein Fehlverhalten von mir, denn eine leichte Gehirnerschütterung hatte ich mir ganz bestimmt zugezogen. Aber alles in allem fehlte mir am nächsten Tag nichts. Die Stirnwunde verheilte narbenlos.
Es wäre aber falsch von mir, an dieser Stelle zu verschweigen, dass ich mir dann in der nachfolgenden Woche eine Hepatitis und eine Salmonellenvergiftung zuzog. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, die nichts mit dem Laufen zu tun hatte.