Was haben Freddie Mercury, Karbonschuhe und Lemminge mit dem Berlin-Marathon zu tun? Eine ganze Menge. Denn beim Blick auf die Zielzeiten der Jahre 2005, 2015 und 2024 zeigt sich: Das Feld wird größer, internationaler, weiblicher – und an der Spitze auch schneller. Doch nicht alle profitieren gleichermaßen vom Fortschritt. Während die ambitionierten „Jäger“ und „Sammler“ immer flotter ins Ziel kommen (vermutlich dank besserer Vorbereitung – und neuer Technologien), fällt die zweite Hälfte zurück. Die „Lemminge“ nehmen zu, der Durchschnitt bleibt träge. Der große Leistungssprung nach 2015 deutet auf einen Superschuh-Effekt hin, was sich aber (noch) nicht final beweisen lässt. Was bleibt, ist ein faszinierender Mix aus Daten, Demografie und Drama – typisch Marathon eben.
VON LEMMINGEN UND SUPERSONICS
I'm travelling at the speed of light
I wanna make a supersonic man out of you
So sang Freddie Mercury 1978. Supersonic-Menschen wurden beim Berlin Marathon bislang zwar nicht gesichtet – aber wenn man den großen Schuhherstellern glauben darf, dann ist „impossible“ längst „nothing“. Ob und inwieweit ihre Technologien tatsächlich einen Effekt auf die Zielzeiten haben, schauen wir uns in der folgenden Analyse an.
Sind die Zielzeiten schneller geworden?
Marathonläuferinnen und -läufer in den Altersklassen haben ein Problem: Sie berichten gerne voller Stolz von ihrer neuen Bestzeit – nur um dann gefragt zu werden, wie schnell denn der Sieger war. Und plötzlich steht man mit seiner 3:58 h im Schatten einer 2:03:17. Autsch. Im Jahr 2005 musste man sich noch mit 2:07:41 vergleichen lassen. 2015 war der Sieger bereits nach 2:04:00 im Ziel, und 2024 gar nach 2:03:17. Die Differenz zur breiten Masse bleibt gewaltig – rund zwei Stunden. Doch wird auch der Rest des Feldes schneller? Genau das ist die große Frage, der wir hier nachgehen.
Die Antwort ist – wie so oft beim Marathon – nicht ganz eindeutig. Beim Blick auf die gesamte Zielzeitverteilung zeigt sich: Für den letzten Finisher stoppte die Uhr 2024 bei sagenhaften 08:59:18. Ein Einzelfall – zum 50. Jubiläum wollte man einem M80-Pionier von 1974 die Zielankunft ermöglichen. In den Vorjahren lag das Ende meist bei knapp über sieben Stunden.
Viel interessanter: Die schnellere Hälfte der Läuferinnen und Läufer wurde über die Jahre tatsächlich flotter. Die Zielzeitverteilungen zeigen: 2015 lag die Kurve klar unter der von 2005, und 2024 nochmal darunter (vgl. Abbildung 1). Offenbar läuft ein großer Teil der Marathonis inzwischen auf einem höheren Niveau. Ganz anders das Bild in der zweiten Hälfte: Zwischen 2005 und 2015 tat sich hier kaum etwas – die Kurven verlaufen nahezu deckungsgleich. Doch 2024 verschiebt sich die Verteilung klar nach oben: Hier scheint es langsamer geworden zu sein.
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Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den durchschnittlichen Finisherzeiten: 2015 waren sie besser als 2005 – aber bis 2024 verschlechterte sich der Schnitt wieder (vgl. Abbildung 2). Nun könnte man sagen: Es laufen ja nicht jedes Jahr dieselben Menschen mit. Aber bei Zehntausenden Teilnehmern greift das Gesetz der großen Zahl – es sei denn, das Teilnehmerfeld verändert sich strukturell.
Und genau das ist passiert. Berücksichtigt man Alter, Geschlecht und Nationalität – also gewichtet die Zeiten mit der Verteilung von 2024 –, zeigt sich: Der Durchschnittsläufer wurde im Zeitablauf durchaus schneller. Nicht dramatisch – zwischen 2015 und 2024 sind es gerade mal zehn Sekunden – aber immerhin.
Gleichzeitig hat sich die Teilnehmerzahl am Berlin-Marathon in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt. Und wenn man davon ausgeht, dass die besonders Ambitionierten schon früher dabei waren, dann dürfte der Zustrom tendenziell weniger talentierte (aber nicht weniger motivierte!) Läuferinnen und Läufer betreffen. Das lässt sich zwar nicht direkt beobachten – aber indirekt: über das Renntempo auf den ersten 25 Kilometern (vgl. Typologie).
Betrachtet man nur die ambitionierte Teilgruppe, lässt sich festhalten: Nicht nur die Sieger, auch die Ambitionierten sind im Schnitt immer schneller geworden. Und das bleibt auch nach Neugewichtung so. Die Frage ist nun: Wer sind diese Ambitionierten – und was macht sie so schnell?
Das Teilnehmerfeld – älter, weiblicher, internationaler
Ein Blick auf die Demografie zeigt: Das Feld beim Berlin-Marathon ist heute deutlich internationaler, weiblicher – und älter (vgl. Abbildung 3a). Alles keine Neuigkeiten, aber sie haben Konsequenzen: Frauen laufen im Schnitt langsamer als Männer – bei den Ambitionierten etwa 25 Minuten (vgl. Abbildung 4). Und ältere Jahrgänge brauchen eben- falls länger: Ambitionierte AK55-Läufer liegen etwa 18 Minuten hinter der Hauptklasse. Beides trägt zur Verlangsamung im hinteren Feld bei. Andererseits: Nicht-deutsche Teilnehmende laufen im Schnitt etwas schneller. Das könnte den Fortschritt im vorderen Feld erklären.
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*Wenn solche gegenläufigen Effekte gleichzeitig wirken, ist es kein Wunder, dass sich am Mittelwert oder an der Verteilung kaum ein klarer Trend ablesen lässt. Aber: Die Veränderung in der Zusammensetzung erklärt zumindest, warum der Durchschnitt nicht eindeutig schneller oder langsamer wird – obwohl sich in beiden Hälften etwas tut. Neben der Demografie hat sich offenbar auch die Taktik der Teilnehmenden verändert (vgl. Abbildung 3b). Eine frühere Analyse zeigte: Je gleichmäßiger das Tempo auf den ersten 25 km, desto besser die Zielzeit (vgl. Braun, 2016)
Daraus ergibt sich eine Renntypologie: Die „Jäger“ und „Sammler“ – die taktisch klugen – und auf der anderen Seite die „taktisch Ungeschickten“ und die „Planlosen“. Letztere, die wir hier charmant als „Lemminge“ bezeichnen, brechen schon auf den ersten 25 Kilometern stark ein – mit entsprechend miesen Zielzeiten (vgl. Typologie).
Was sich zeigt: Die Zahl der „taktisch Ungeschickten“ nimmt ab. Und die „Ambitionierten“ werden mehr. Es gibt aber auch immer mehr „Planlose“. Auch das trägt zum uneinheitlichen Bild bei.
Da sich aus dem Verhalten der Lemminge oder der „taktisch Ungeschickten“ schwerlich fundierte Rückschlüsse ziehen lassen, konzentrieren wir uns auf die Ambitionierten. Und stellen die Frage: Was bringt sie auf Supersonic-Kurs?
Der Supersonic-Effekt: Was macht die Ambitionierten schneller?
Die „Jäger“ und „Sammler“ – so zeigt Braun (2016) – stellen den Großteil der Schnelleren. Doch sind sie über die Jahre tatsächlich noch schneller geworden?
Eine standardisierte Analyse offenbart: Eine nicht-deutsche Läuferin der Hauptklasse vom Typ „Jägerin“ war 2005 nach 14.743 Sekunden im Ziel (vgl. Abbildung 4). 2015 brauchte sie 260 Sekunden weniger, 2024 sogar 668 Sekunden weniger. Das ist nicht nur statistisch hoch signifikant, sondern sportlich auch sehr beeindruckend.
Der Fortschritt zwischen 2015 und 2024 (6:47 min) war erheblich größer als der von 2005 bis 2015 (4:20 min). Also kein linearer Trend – sondern ein echter Leistungssprung.
Woran liegt das?
Ein möglicher Grund: Bessere Trainingspläne, mehr Erfahrung, breitere Verfügbarkeit guter Vorbereitung durch das Internet. Klingt plausibel. Aber: Der Effekt guter Pläne dürfte sich irgendwann abschwächen. Denn wer ambitioniert ist, trainierte wahrscheinlich auch früher schon mit Plan.
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*Lesebeispiel: Eine nicht-deutsche weibliche Hauptklasseläuferin vom Typus „Jägerin“ war im Jahr 2005 nach 14.743 Sekunden im Ziel (ein sonst identischer Mann wäre 1.529 Sekunden schneller gewesen; wäre er jedoch aus der AK40, hätte er nur 1.404 (=1.529-125) Sekunden weniger gebraucht). Im Jahr 2015 wäre diese Frau aber 260 Sekunden schneller gewesen und im Jahr 2024 sogar 668 Sekunden schneller. Der Zusatzeffekt im Jahr 2024 gegenüber dem Jahr 2015 war also 407 Sekunden (6:20 min.). Berechnet mit der „stepwise“-Methode, d.h. es werden nur Variablen berücksichtigt, die auch einen signifikanten Einfluss haben. Deswegen fehlt z.B. die Variable ak45_2024 in der obigen Tabelle. Quelle: SCC Events, Berlin Marathon 2005 | 2015 | 2024 mit N = 30.495 | 36.768 | 54.323 Finisher
Der Rest des Fortschritts muss also irgendwo anders herkommen. Und da wird’s spannend: Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio kamen erstmals Karbonschuhe zum Einsatz – seit 2017 sind sie auch für Hobbyläuferinnen erhältlich. Rund 3,5 Sekunden pro Kilometer – das könnte der Effekt sein, denn genau diese Lücke klafft zwischen 2015 und 2024, wenn man einen linearen Trainingsplaneffekt vom Gesamteffekt abzieht (6:47min abzgl. 4:20min = 2:27min oder eben 3,5 Sekunden pro Kilometer). Aber Vorsicht, das ist nur der Effekt auf den bedingten Mittelwert. Wenn etwa nur die Hälfte Karbon am Fuß hatte, ergäbe sich für die ein Effekt von 7 Sekunden (und 0 für die anderen). Die 3,5 Sekunden sind also eher eine Untergrenze.
Kausal beweisen lässt sich das alles hier aber nicht – dafür bräuchte es individuelle Schuhdaten, komplette Zeitreihen und Wettervergleiche. Allerdings scheinen die äußeren Bedingungen zumindest in den zwei letzten Vergleichsjahren ähnlich gewesen zu sein.1 Auf jeden Fall legt das Ergebnis nahe: Karbon macht schneller. Allerdings nicht alle gleichermaßen.
Karbon hilft – aber nicht jedem gleich
Ein Blick auf die Regressionskoeffizienten zeigt: Nicht alle profitieren gleichermaßen. Für Ältere oder deutsche Teilnehmende fällt der Karboneffekt offenbar geringer aus - möglicherweise, weil sie seltener in den Genuss der Hightech-Schuhe kommen. Oder weil der Effekt bei langsameren Geschwindigkeiten schlicht verpufft. Oder weil man ihnen das einredet und sie sich deshalb nicht trauen, mit Karbon zu laufen. Oder weil der Anteil der Ambitionierten mit dem Alter kleiner wird und aus Gesundheitsbewusst- sein auf Karbonschuhe verzichtet wird. Oder weil es ihnen einfach nicht wichtig ist.
So oder so: Es bleiben offene Fragen. Aber vielleicht ist genau das der Reiz des Marathons – dass sich eben nicht alles messen und erklären lässt. Denn so schnell die Schuhe auch sein mögen – am Ende zählt das Erlebnis. Die Euphorie, die Selbstzweifel, das Hoch nach Kilometer 35, die pure Erschöpfung im Ziel. Oder, wie Freddie es sagen würde:
I'm gonna have myself a real good time
I feel alive
And the world, I'll turn it inside out, yeah
I'm floating around in ecstasy, so
Don't stop me now
2005 ca. 17 Grad und wolkenlos, 2015 ca. 14 Grad und überwiegend klar, 2024 ca. 13 Grad und ebenfalls überwiegend klar (Quelle: https://de.weatherspark.com).
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Typologie der Renntaktik*
(*nach Braun, 2016 | die Anteile hier sind abweichend wegen einheitlicher Definition über alle 3 Jahre)
Lemminge: Jeder fünfte Läufer (Anteil 17-23%) übersteht sein Anfangstempo nicht annähernd und stürzt sich daher wie die Lemminge ins Verderben: Die Einbruchrate auf den ersten 25 km liegt bei mehr als 23 sec/km. Dazu zählen vor allem Frauen und über 50 Jährige. Die Zielzeit der Lemminge liegt meist über 4:30 h. Vermutlich wollen die alten Haudegen ihrem Körper mehr abringen, als er noch leisten kann.
Übermütige: Schon vor dem Hammermann ist für jeden sechsten Läufer (13-17%) die Jagd zu Ende: 11 bis 23 sec/km bricht er ein. Beliebt ist diese Taktik in allen Altersklassen – vor allem jenseits der AK 45 – und bei Frauen etwas mehr als bei Männern. Bis zum Ziel brauchen die Übermütigen meist mehr als 4:00 h.
Sammler: Die meisten Läufer sind Sammler (36-40%). Sie werden beim Kilometersammeln höchstens 11 sec/km langsamer, manche sogar bis zu 1 sec/km schneller als zu Beginn. Auch diese Taktik ist in allen Altersklassen beliebt, vor allem in den stark besetzten AK 35 bis AK 45, bei Männern etwas mehr als bei Frauen. Das Ziel erreicht das Gros der Sammler unter 4:00 h.
Jäger: Jäger stellen die zweitgrößte Gruppe (22%). Sie lauern zunächst ihren Opfern auf, werden auf Kilometer 15 bis 25 bis zu 12 sec/km schneller und packen dann zu: Diese vor allem in der AK 45 und den Altersklassen darunter beliebte Taktik trifft man bei Männern eher an als bei Frauen. Sie führt ebenfalls meist zu einer Nettozeit unter 4:00 h.
Los-Schlurfer: Sie verhalten sich zunächst recht träge, können im Renn verlauf aber um mehr als 12 sec/km zulegen. Dabei handelt es sich nur um eine kleine Gruppe (3-8%) vorwiegend jüngerer Läufer unter AK 30, vermutlich unerfahrene Marathonis. Männer und Frauen halten sich die Waage. Trotz der beachtlichen Beschleunigung rächt sich das anfängliche Geschlurfe: Typische Finisherzeiten liegen jenseits der 4-Stunden-Marke.
Quelle: SSC Events GmbH, Reiner Braun